Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23.04.2017, Nr. 16, S. R1
Die letzten ihrer Art
Im Hessischen Ried singt das Blaukehlchen wieder. Andere Vögel sind fast ausgestorben, verdrängt von konventionellen Landwirten und von Windrädern.
Von Claudia Schülke
Mit seinem lehmverkrusteten Auto holpert Stefan Stübing in der Abenddämmerung bei Bad Nauheim über die Feldwege. Hier im Wettertal scheint für einen Vogelkundler die Welt noch in Ordnung. Zwischen Steinfurt und Wisselsheim hat der Biologe Stübing im vergangenen Jahr auf einem Acker fünf Feldlerchenpaare gezählt, ein Paar Rebhühner, zwei Schafstelzen- und sechs Goldammerhähne. Auf dem Acker daneben waren fünf Goldammerpaare zu Hause. Der stellvertretende Vorsitzende der Hessischen Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz (HGON) zeigt auf einen Bahndamm: "Dort im Altgras gibt es noch Insekten, von denen die Vögel leben können." Zwei Weißstörche staken über das umbrochene Feld und picken erfolgreich nach Regenwürmern. Froh ist Stübing trotzdem nicht.
"Ein Wäldchen, ein schmaler Auensaum, Brachen": Stübing zählt jene "kleinräumigen Strukturen" auf, die den Vögeln des sogenannten Offenlands Rückzugsmöglichkeiten bieten. Nahe der alten Löwenthalmühle, in der ein Turmfalke und eine Schleiereule hausen, fühlt man sich in die sechziger Jahre zurückversetzt. "Auf einem Areal von etwa 200 Hektar leben ungefähr 80 Tierarten", schätzt Stübing, der mit seiner Familie in der Eichwaldsiedlung von Wisselsheim wohnt und das Gebiet wie seine Westentasche kennt: "Allein in den zwei Hektar Eichenwald da drüben leben 40 Brutvogelarten." Stübing muss es wissen, denn er hat die Brutvogelbestände vor seiner Haustür für die HGON kartiert. Dann wird er ernst, und leise: "Der Kiebitz ist weg, die Turteltaube, die Bekassine, das Braunkehlchen." Obwohl die Wiesen unter Naturschutz stehen.
Hessen hat 60 Vogelschutzgebiete. Das klingt nach viel, aber die Rote Liste des Landes, das Verzeichnis der gefährdeten Arten, wird immer länger. Von den 190 Vogelarten, die in Hessen brüten, gelten 93 als bestandsgefährdet. Vor allem denen, deren Lebensräume Äcker und Wiesen sind, geht es schlecht. Kiebitz und Braunkehlchen, Wiesenpieper, Steinschmätzer, Grauammer und Bekassine sind "vom Aussterben bedroht". Turteltaube, Rebhuhn und Gartenrotschwanz sind "stark gefährdet". Sogar der Kuckuck gilt seit 2014 als gefährdet, weil die Zahl seiner Wirtsvögel abnimmt. Allerweltsvögel wie Stockente, Feldsperling, Haussperling, Stieglitz und Goldammer haben es mittlerweile auf die "Vorwarnliste" geschafft. Gefahr droht offenbar auch in den Winterquartieren: Unter den 93 bestandsgefährdeten Arten sind 67 Zugvögel, darunter 45 Langstreckenzieher. Den Waldvögeln geht es besser, auch wenn dem Grauspecht immer mehr alte Buchen und Eichen durch Holzeinschlag verlorengehen und er deshalb als "stark gefährdet" gelistet ist.
Mit seinem Auto biegt Stübing jetzt ab und fährt durch die Eichwaldsiedlung. Dahinter dehnt sich Agrarsteppe bis zum östlichen Horizont. Die einzigen Strukturen sind die Masten der Hochspannungsleitung. Eine Hecke ist zu sehen, immerhin. "Ja, aber da ist keine einzige Goldammer drin", sagt Stübing. Effiziente Landwirtschaft mache den Vögeln den Garaus, sagt er, Erntemaschinen ließen für sie kein Körnchen mehr übrig.
Zwei Feldlerchen fliegen auf. "Gemessen an früher viel zu wenig", kommentiert Stübing. Tote Prärie nennt er die intensiv bewirtschafteten Flächen. Die Bauern ackerten bis direkt an die Wege, die Wegränder würden alle drei Wochen gemäht, weil die Bauern Mutterkornpilze darin vermuteten. Die gefiederten Winzlinge aber bräuchten Blühstreifen, auf denen Wildkräuter gediehen: weil diese den Insekten und damit den Vögeln Nahrung böten.
Schon 1998 hatte der Naturschutzbund Deutschland die Feldlerche zum "Vogel des Jahres" gekürt, weil immer weniger Lerchen gesichtet wurden. Seitdem sind die Populationen nach Angaben des Bundes um fast 50 Prozent zurückgegangen. Noch schlimmer bestellt ist es um die Vögel, die auf Feuchtwiesen brüten, zu ihnen gehören Braunkehlchen und Kiebitz. Die HGON hat deshalb ihre Frühjahrstagung im März dieses Jahres in Herborn, die mit "Zugvögel am Abgrund" überschrieben war, mit einer Diskussion über das Braunkehlchen eröffnet. Bis in die achtziger Jahre hinein waren in Hessen noch um die 1000 Brutpaare gezählt worden. 2016 waren es kaum mehr als 150. Nicht einmal im verwunschenen Dilltal im Schatten des Hohen Westerwalds können sich die Braunkehlchen halten. Zur Brutsaison im vergangenen Jahr hatten die Vogelschützer deshalb Hilfsmaßnahmen eingeleitet: Kerngebiete des Bestands ausgewiesen, Bambusstäbe als Ansitzwarten für die Insektenjagd an Gewässer- und Grabenrändern gesetzt, mit Bauern über eine Einschränkung der Bewirtschaftung ausgewählter Flächen verhandelt. Insgesamt will die HGON fünf bis zehn Prozent der Landesfläche unter Braunkehlchenschutz stellen. "Die hessische Biodiversitätsstrategie soll weiter vorangetrieben werden", versicherte bei der Tagung in Herborn die hessische Umweltministerin Priska Hinz (Die Grünen). "Dabei wären wir nichts ohne das Ehrenamt", fügte sie hinzu.
Auch Oliver Conz, Vorsitzender der HGON, setzt auf Ehrenamtliche, die dort, wo sie leben, die Flächen genau kennen. Gemeinsam mit der Umweltministerin stellte er in Herborn die Gründung von "Landschaftspflegevereinigungen" in Aussicht, mit Pilotprojekten im Lahn-Dill-Kreis, in der Wetterau und im Kreis Waldeck-Frankenberg. Dabei sind zum Beispiel Ausgleichszahlungen für Landwirte geplant, damit sie ihre Wiesen erst vom 15. Juli an mähen, Ackerrandstreifen stehen lassen und auf Düngung verzichten. "Die Landwirte sollen gut leben können und zugleich etwas für die Artenvielfalt und damit für das Gemeinwohl tun", sagte die Ministerin.
Ehrenamtliche Helfer sind auch bei den mehr als 20 Schutzprojekten der Staatlichen Vogelschutzwarte für Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland im Einsatz. Etwa für den Kiebitz. "In den Siebzigern gab es noch mehr als 2000 Kiebitzpaare in Hessen, jetzt sind es nur noch 200", sagt Matthias Werner, der wie Stübing am hessischen Brutvogelatlas von 2010 mitgewirkt hat. Etwa 70 Kiebitzpaare brüten bei Groß-Gerau auf den feuchten Äckern des Hessischen Rieds. Gemeinsam mit dem ornithologischen Arbeitskreis von ornithologischer Gesellschaft und Naturschutzbund hat die Vogelschutzwarte dort eine Kiebitzprojektgruppe gegründet. "Die Äcker werden markiert und später eingesät, damit die Kleinen schlüpfen können, bevor die Pflanzen hochkommen", erläutert Werner, der in Groß-Gerau zu Hause ist. An seinem Computer zeigt er Bilder eines eingezäunten Ackers: Bodenbrüter werden nämlich auch leicht zur Beute des Fuchses. "Als einmal die untere Litze des Zauns nicht unter Strom stand, waren am nächsten Morgen alle Gelege futsch."
Neben vielen Sorgen, die sie haben, gibt es für Vogelschützer auch gute Nachrichten. Vom Weißstorch zum Beispiel, der auf die Vorwarnliste zurückgestuft wurde, von Uhu, Wanderfalke und Blaukehlchen, die ganz von der Roten Liste verschwunden sind. Unter den Weißstörchen nehmen nach den Worten von Matthias Werner vor allem die "Westzieher" zu, jene Störche also, die mittlerweile nur noch bis Spanien fliegen statt über die Meerenge von Gibraltar nach Afrika. Immer häufiger bleiben sie wegen der milden Winter auch in ihren Brutgebieten. "Neun Störche haben in Groß-Gerau überwintert", sagt Werner. In den Siebzigern habe es ein einziges Weißstorchenpaar in Hessen gegeben, 2015 knapp 500, die gebrütet haben, 200 davon allein im Kreis Groß-Gerau. "Wenn das Grundwasser im nördlichen Ried hoch steht, finden sie so viele Regenwürmer, dass sie sogar in Kolonien brüten können", sagt Werner.
Von der Erholung des Grundwasserspiegels im Hessischen Ried und auf der Altrheininsel Kühkopf profitiert auch einer der farbenprächtigsten Vögel des Landes: das Blaukehlchen. Vor 40 Jahren noch eine vom Aussterben bedrohte Art, brüten heute in dem EU-Vogelschutzgebiet 230 bis 270 Paare, etwa 50 Prozent des landesweiten Bestands. Weil es so schön ist, hat sich die Deutsche Ornithologen-Gesellschaft das Blaukehlchen ebenso auf ihr Wappen geschrieben wie die Vogelkundliche Station Untermain. Schließlich waren die Rheinauen diesem Vogel schon immer lebenswichtiges Refugium. Auch den Schwarzkehlchen geht es gut, den Rotkehlchen ohnehin, wie man an jeder Frankfurter Straßenecke bis in die Nacht hinein hören kann.
Nicht weit von den Altarmen des Rheins nisten in den Felswänden des Vorderen Odenwalds Uhu und Wanderfalke. Hier hat die Staatliche Vogelschutzwarte einen Vertrag mit der Firma Röhrig geschlossen, die in den Steinbrüchen von Heppenheim-Sonderbach Granit abbaut. Wichtig war dabei, dass das neue Vogelschutzgebiet "keine Veränderungssperre, sondern nur ein Verschlechterungverbot bezogen auf die relevanten Schutzgüter bedeutet", heißt es in der bürokratischen Terminologie der Vogelschützer. Inzwischen gilt die Zusammenarbeit als Vorzeigeprojekt dafür, dass sich ökonomische und ökologische Interessen durchaus vereinbaren lassen. Werner ist glücklich darüber, dass die Betreiber des Steinbruchs mittlerweile von "unserem Uhu" sprächen.
Weniger Gutes ist über den Rotmilan zu berichten. Dieser Greifvogel leidet unter der Energiewende. Wenn die Milane nahe Windrädern fliegen, werden sie von deren Rotoren erschlagen. Auch intensive Landwirtschaft macht ihnen zu schaffen. In den immer dichter gesäten Reihen von Energiepflanzen wie Mais und Raps kann der Rotmilan seine Beute nicht sehen und finden. Um diese Tiere kümmert sich jetzt auch der Dachverband Deutscher Avifaunisten mit einem Schutzprojekt im Biosphärenreservat Rhön, wo der Rotmilan als Charaktervogel gilt. Für den Rotmilan trägt Deutschland eine besondere Verantwortung, denn mehr als die Hälfte des weltweiten Bestands brütet hierzulande.
Es sind viele unterschiedliche Faktoren, die den Vögeln in Hessen das Leben schwermachen: Neben der Landwirtschaft ist es auch die Forstwirtschaft. Es ist die Versiegelung und Überbauung der Böden, es sind verantwortungslose Gassigeher und Wanderer, die in der Nähe von Brutplätzen und Horsten einfach nur stören. Etwa den scheuen Schwarzstorch im Kellerwald oder im Vogelsberg. "Nur noch 60 Paare brüten in Hessen", sagt Maik Sommerhage vom Naturschutzbund Deutschland. Der sogenannte Zielwert der Vogelschützer liegt bei mehr als hundert. Der Kuckuck wiederum kommt immer häufiger auch ganz einfach zu spät: Seine Wirtsvögel brüten heute früher, als sie es jahrtausendelang taten. Eine Folge des Klimawandels sei das, sagt Sommerhage. Dann spricht er von den amerikanischen Studien, die auch in Deutschland viel Beachtung fanden und die er ein Vehikel der Bauernverbände nennt, sich aus der Verantwortung zu stehlen: Anders als diese Studien behaupteten, könne der Mensch das große Vogelsterben nicht den streunenden Katzen anlasten.
Bildunterschrift: Wappentier der Vogelschützer: das Blaukehlchen
Foto fotex, Esra Klein
Erkundet und kartiert die Vogelwelt: Stefan Stübing im Bingenheimer Ried.
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